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Titel
History of Childhood. A Very Short Introduction


Autor(en)
Marten, James
Reihe
Very Short Introductions
Erschienen
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
£ 7.99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Wiebke Hiemesch, Institut für Erziehungswissenschaft, Stiftung Universität Hildesheim

Der US-amerikanische Historiker James Marten hat in seiner „Very Short Introduction“ in die Kindheitsgeschichte hohe Ambitionen – kurz und global soll sie sein und zugleich Aussagen über die menschliche Zivilisation machen. So schreibt er zu Beginn: „This global history of childhood in the Very Short Introduction series takes its inspiration from the idea that the lives of children reveal important and sometimes uncomfortable truths about civilization.“ (S. 1) Immer wieder verfolgten Studien das Ziel, die wenig beachtete historische Kindheitsforschung in das Zentrum der Gesellschaftsanalyse zu heben.1 James Marten legt mit dieser Veröffentlichung nun ein kondensiertes und impulsgesättigtes Beispiel dafür vor, Kindheitsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte zu betreiben.

Unter dem Titel Catching cultures in high relief entfaltet Marten in der Einleitung grundlegende theoretische Gedanken zum Konstruktcharakter des Kindheitskonzeptes und dessen stetigem Wandel. Eine Vielzahl heterogener Kindheitsgeschichten würde in der Forschung durch zwei thematische Klammern zusammengehalten. So sei der ökonomische und emotionale Wert der Kinder für die Gesellschaft ein durchlaufendes Thema. Auch für das Leben von Kindern sei bei aller Divergenz eine zentrale Konstante auszumachen, die dann eine Minimaldefinition liefert: Kinder spielten überall und zu jeder Zeit. Dies solle aber nicht als Ausdruck einer Romantisierung kindlicher Alltagserfahrung verstanden werden, sondern, so Marten, „[…] it does remind us that children have been children since the beginning of time“ (S. 6). Diese Minimaldefinition bleibt als solche aber unscharf und wird im Verlauf des Buches nicht weiter in Anschlag gebracht. Zudem bedürfte sie einer theoretischen Präzision. Dass die spielende Tätigkeit den Kindern zugeschrieben und den Erwachsenen abgesprochen wird, kann bereits mit Johann Huizinga nicht so klar behauptet werden.2 Fraglich bleibt auch, ob unter diese Definition Kinder fallen, die psychisch und physisch nicht in der Lage sind zu spielen.

Überzeugender hingegen ist eine Perspektive auf Kindheit, die am Beginn des ersten inhaltlichen Kapitels Traditions am Beispiel antiker Gesellschaften und solcher außerhalb der westlichen Antike eröffnet wird. Kindheit sei keine Erfindung „moderner“ Gesellschaften im globalen Norden. Schließlich hätten Gesellschaften ihren Fortbestand immer schon gewährleisten und den Umgang mit den jüngsten ihrer Mitglieder gestalten müssen. Dass die soziale Differenzierung zwischen Erwachsenen und Kindern unterschiedlich ausgedeutet wurde und wird, wird dann eindrucksreich in einem insgesamt etwa 110-seitigen geschichtlichen Abriss deutlich, der hier nur beispielhaft referiert wird.

Das folgende zweite Kapitel Revolutions führt in zentrale Veränderungen vom Mittelalter zur frühen Neuzeit ein. Am Ende des Mittelalters seien die Erfahrungen von Kindern weltweit durch die landwirtschaftliche Lebensweise und demographische Einschnitte aufgrund von Krankheit und Sterblichkeit geprägt gewesen. Renaissance und Reformation hätten dann zu zunehmenden Unterschieden zwischen Kindheiten in Europa und der weiteren Welt geführt. Dazu thematisiert Marten unter anderem das Leben von Kindern der Siedler/innen in der „New World“ und „indigenous childhoods“.

James Marten irritiert immer wieder eine lineare Fortschrittsgeschichte moderner Kindheit und weist auf ihre Widersprüche hin. Das zeigt sich beispielsweise, wenn das folgende Kapitel The rise of the modern childhood mit der Geschichte der transatlantischen Sklaverei als „global institution“ (S. 51) eröffnet. Die große Zahl der ausgebeuteten und verschleppten Kinder mache Sklaverei zu einer der zentralen Themen der amerikanischen Kindheitsgeschichte, so der Autor (S. 53). Gleichzeitig habe sich im globalen Norden ein Ideal von Kindheit als Lern- und Schutzraum entwickelt, welches auch dargelegt wird. Dieses Kindheitsideal habe sich in das imperiale Projekt der Kolonisation und seiner Herrschaftsidee eingeschrieben (S. 59), denn das Bild des noch zu zivilisierenden „Fremden“ habe Bildung und Missionierung ebenso gerechtfertigt wie Unterdrückung und Ermordung.

Am Beginn des Kapitels Creating a world view of Childhood steht die „Declaration of the Rights of the Child“ (1924). Diese internationale Übereinkunft sei der Versuch gewesen, das Leben von Kindern weltweit zu verändern, beispielsweise bezogen auf umfassende Bildungsmöglichkeiten und ein Gesundheits- sowie Wohlfahrtswesen. Marten kontrastiert diese Bemühungen dann mit den Kriegs- und Krisenerfahrungen von Kindern im 20. Jahrhundert. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg liegt sein Fokus auf Japan, Amerika und die Beteiligung der Jugend am Krieg durch Deutschland. Die Verfolgung und Ermordung jüdischer Kinder und anderer Opfergruppen bleiben unterbelichtet.

In dem abschließenden Kapitel The century of the Child and beyond stellt James Marten die Frage nach dem „Jahrhundert des Kindes“ (Ellen Key). Er zeigt, dass das Leben von Kindern weltweit noch gegenwärtig durch Armut, Kriege und Vertreibung gekennzeichnet ist. Ausführlicher wird die Rekrutierung und Ausbeutung von Kindern in bewaffneten Konflikten besprochen. Demgegenüber würden zunehmend Anstrengungen unternommen, im „best interest“ der Kinder für bessere Lebensbedingungen Sorge zu tragen, beispielsweise durch die UN-Kinderrechtskonvention und weltweit agierende Kinderschutzorganisationen. Besonders spannend ist, dass James Marten an dieser Stelle die politische Akteurschaft von Kindern im Rahmen von Menschenrechts- und Friedensbewegungen anführt. Hier schildert er auch Ungleichheiten im westlichen Bildungssystem und geht auf veränderte Familienstrukturen sowie eine globalisierte Kinderkultur ein.

James Marten legt mit seiner Kindheitsgeschichte eine facettenreiche und gut lesbare Einführung vor. Sie schließt mit ihrer inhaltlichen Ausrichtung an gegenwärtige internationale Forschungsdiskurse an, beispielsweise postkoloniale Studien, Studien zur kindlichen Sexualität (wobei das Kind bei ihm bis auf weibliche Sklavinnen geschlechtslos bleibt, S. 55ff.) sowie Fragen der Akteurschaft von Kindern.3 Dem hohen Anspruch des Buches – insbesondere der ausdrücklich „globalen“ Perspektive – ist allerdings in dieser Kürze kaum nachzukommen. In der Auswahl der Themen zeigt sich die Standortgebundenheit des US-amerikanischen Autors – die Sowjetunion wird beispielsweise nur partiell behandelt. Darüber hinaus sind seine Aussagen auf die zur Verfügung stehenden Quellen angewiesen. Damit wird auch klar, dass Marten nur bedingt nicht-literale Kulturen einbeziehen kann. Vor dem grundlegenden Quellenproblem einer Geschichte aus der Perspektive der Kinder und der Unterdrückten steht auch er. Diese Grenzen hätten transparenter gemacht werden können.

Hier zeigt sich noch ein grundlegenderes Problem des Publikationsformates. Die vielen thematischen Impulse und Blitzlichter, die mitunter auch empirische Zahlen präsentieren, sind anregend, können aber nicht nachvollzogen werden. Das Reihenformat „Very Short Introductions“ arbeitet ohne Verweise im Text und reduziert Literaturangaben auf ein kurzes Verzeichnis zum Weiterlesen. Auf diese Weise öffnet es den Leser/innenkreis. Der Fülle an Aussagen und Themen tut das aber nicht gut. Die ohnehin sehr kondensierte Form verliert dadurch an Substanz und vergibt die Möglichkeit, sich die Komplexität des Feldes durch gezielte weitergehende Lektüre zu erschließen. Zumindest an einigen Stellen hätte im Text auf Namen und Studien verwiesen werden können.

In dem Buch zeigt James Marten, wie sich veränderte und gefestigte Vorstellungen von heterogenen Kindheiten und Alltagswelten von Kindern gegenseitig prägten, ebenso, wie sie auseinanderdrifteten. Ein kindheitstheoretischer Zugang ist nicht Ausgangspunkt dieses Buches. Es könnte aber einen analytischen Mehrwert haben, Kindheitsvorstellungen und die konkreten Lebenssituationen begrifflich auseinanderzuhalten. Dann hätte beispielsweise im Falle des transatlantischen Sklavenhandels zur Diskussion gestellt werden können, ob die Kinder überhaupt als Menschen eines bestimmten Alters anerkannt wurden und wie sich das Aushebeln einer sozialen Differenzierung zwischen Erwachsenen und Kindern oder gar das Absprechen menschlicher Grundrechte auf ihr alltägliches Erleben auswirkte.

Das Buch bietet einen breiten Einstieg in die Kindheitsgeschichte und orientiert sich an aktuellen Debatten einer Dezentralisierung. Immer wieder irritiert Marten die Leser/innen mit Beispielen und flicht konsequent Themen von außerhalb des dominierenden westlichen Kindheitsdiskurses ein. So wird ein sehr breites thematisches Feld abgedeckt. Ein großer Gewinn des Buches ist der umfassende Einbezug der amerikanischen Kolonial- und Gewaltgeschichte sowie globaler Armuts-, Kriegs- und Ausbeutungserfahrungen von Kindern, zu denen der Autor bereits ausführliche Studien vorgelegt hat. Es verbindet die Perspektiven einer Ideen- und Alltagsgeschichte und ist Leser/innen anzuraten, die einen Einblick in die Geschichte menschlichen Zusammenlebens am Exempel einer Geschichte der Kindheiten erhaschen möchten.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017; Meike S. Baader / Florian Eßer / Wolfgang Schröer (Hrsg.), Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt am Main 2014; Peter N. Stearns, Kindheit und Kindsein in der Menschheitsgeschichte, Essen 2007.
2 Vgl. Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, 25. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2017.
3 Vgl. u.a. Manfred Liebel, Postkoloniale Kindheiten. Zwischen Ausgrenzung und Widerstand. Weinheim 2017; Florian Eßer / Meike Sophia Baader / Tanja Betz / Beatrice Hungerland (Hrsg.), Reconceptualising Agency and Childhood. New Perspectives in Childhood Studies, New York 2016.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/